Alltag in der Pandemie 

Dienstagabend 18:00 Uhr. Der Krisenstab eines kommunalen Maximalversorgers tagt seit mittlerweile  viereinhalb Stunden. Die Agenda ist lang und gehaltvoll: Wie reagieren wir auf die Ausbreitung neuer,  gefährlicherer Corona-Mutationen unter unseren Patienten? Reichen die bisherigen Hygiene-Konzepte?  Wie können wir die Impfbereitschaft im Personal weiter steigern? Welche elektiven Leistungen können mit welcher Priorität wieder hochgefahren werden? Wie können die Personaluntergrenzen auch unter  Pandemiebedingungen umgesetzt werden? 

Die Stimmung ist gereizt, weil es immer wieder zu heftigen Kontroversen zwischen beteiligten Chefärzten, der Pflegedirektion und der Geschäftsführung kommt – insbesondere  was  das  Impftempo  in Bezug auf die Belegschaft und die pflegerische Besetzung auf den Stationen betrifft. Klare Beschlüsse werden immer wieder aufgeschoben und bereits getroffene Vereinbarungen aufs Neue zerredet.

Krisenmanagement – ein Wettlauf gegen die Zeit 

Das  Beispiel  zeigt, wie die Corona-Krise von den Krankenhäusern mittlerweile seit über einem Jahr in  einem bisher nie dagewesenem Ausmaß  Flexibilität und zeitnahe Anpassungen verlangt – ohne dass  diese in ihren Strukturen und Kommunikationsprozessen darauf ausgelegt sind. Dabei sind viele der erforderlichen Projekte zeitkritisch und erfordern energisches Handeln. Wer ist schneller: Die dritte Welle hochinfektiöser Mutationen oder das angepasste Hygienekonzept? In Bezug auf die Impfbereitschaft des Personals: Der Aufbau von Vertrauen durch die Vermittlung wissenschaftlich  fundierter Informationen oder die „Fake News“ aus den sozialen Netzwerken? 

Wie können Kliniken im aktuellen Geschehen schneller planen, entscheiden und reagieren? Eine wertvolle Orientierung bieten die agilen Arbeitsformen. Ursprünglich sind sie darauf ausgelegt, in Software-Projekten unvorhergesehene Anforderungen mit hoher Geschwindigkeit zu integrieren. In der  Corona-Krise bieten Sie Unternehmen wie Krankenhäusern wertvolle Impulse, die Planungs- und Entscheidungsgeschwindigkeit zu steigern.

Exkurs: Das Cynefin-Modell

Der walisische Forscher David Snowden beschäftigt sich in seinem Cynefin-Modell auf einer Meta-Ebene damit, welche Vorgehensweisen geeignet sind, um spezifischen Umfeldbedingungen gerecht zu werden. Er unterscheidet dabei 4 Umweltsphären: einfach, kompliziert, komplex und chaotisch.

Ein einfaches oder offensichtliches Umfeld ist davon geprägt, dass es klare und leicht erfassbare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge gibt und es damit gut prognostiziert werden kann. Ein Beispiel hierfür ist eine Buchhaltung in Bezug auf die monatlichen Lohnauszahlungen. Das Modell empfiehlt hier in einem Dreischritt – Wahrnehmen – Klassifizieren – Agieren – Standardprozesse zu einem Bestpractice-Prozess zu optimieren. 

In einem komplizierten Umfeld sind die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge weiterhin vorhanden, sind aber nicht für jeden ersichtlich. Dafür braucht es in der Regel Expertenwissen wie z.B. ärztliches Know-How für die Durchführung einer  Standard-OP. Dabei gibt es oft nicht mehr die eine bestmögliche Vorgehensweise, sondern verschiedene „gute“ Wege. Der entsprechende Dreischritt heißt hier: Wahrnehmen – Analysieren – Agieren. Ein Problem wird wahrgenommen und es folgen Analysen, die Sammlung von Daten und Expertenmeinungen, Berechnungen usw., um dann die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge aufzudecken und eine Lösung zu entwickeln. 

Ein komplexes Umfeld zeichnet sich dadurch aus, dass die Bedingungen sich schnell wandeln und schwer prognostizierbar sind. Es gibt zahlreiche Wechselwirkungen, Kausalitätsmuster sind vorhanden, aber schwer zu identifizieren. Ziele und Vorgehensweisen sind in hohem Grad Neuland. In einem komplexen Umfeld greifen meine Standard-Prozesse nicht mehr, ich muss mich in einem eher experimentellen Modus an alternative Lösungen „herantasten“. In dem von Snowden propagierten Ansatz „Probe – Sense – Respond“ (Ausprobieren – Wahrnehmen – Agieren) enthüllen sich Orientierungsmuster quasi als Antwort auf kalkulierte Testläufe und Zwischenschritte (emergente Praxis). 

Chaotische Systeme befinden sich in einer Art Alarmmodus. Ursache und Wirkung liegen jenseits unseres Verständnisses. Sofortiges Handeln ist gefragt, da weder Zeit zum Experimentieren noch zum Analysieren bleibt. In diesem Fall müssen Systeme stabilisiert werden, indem schnell gehandelt wird. Der Dreischritt heißt hier: Handeln – Wahrnehmen – Agieren. Beispiele sind Notfälle, Katastrophen wie z.B. Großbrände oder schwere Unglücke mit sehr vielen Verletzten, die gleichzeitig versorgt werden müssen. 

 

Agile Prinzipien in der Planung – Auf Sicht ins Ungewisse

Die Krise schafft  Rahmenbedingungen, die schnelllebig, unsicher und widersprüchlich sind, genau das  Umfeld, das im Cynefin-Modell als komplex bezeichnet wird. In dieser Radikalität sind solche Bedingungen für Kliniken erstmalig. Im Vergleich zur freien Wirtschaft waren die Rahmen- und  Finanzierungsbedingungen im Gesundheitswesen bis  zur Pandemie  stabil und vorhersehbar, d.h.  Klinken befanden sich in Bezug auf das Cynefin-Modell ineinem einfachen bis komplizierten Umfeld – dementsprechend sind viele Prozesse im Krankenhaus stark standardisiert und reglementiert. Unsere These ist, dass daher die etablierten Denk- und Herangehensweisen im Management des Gesundheitswesens im aktuellen Krisengeschehen nicht immer adäquat sind und die Anpassungsgeschwindigkeit limitieren.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus dem Cynefin-Modell ist, dass man in einem komplexen Umfeld mitunter die Standard-Prozesse verlassen und sich experimentell an neue Lösungen herantasten muss. Es gilt, sprichwörtlich ein Steinchen ins Wasser zu werfen und wahrzunehmen was passiert, um daraus zu neuen, auch unorthodoxen  Lösungen zu kommen. Das bedeutet, auf Sicht zu planen: in vergleichsweisen kurzen Zyklen, an deren Ende jeweils bewertbare Zwischenergebnisse (Prototypen) stehen. Durch schnelles Feedback über die Funktionalität der Prototypen im Alltag werden wertvolle Erkenntnisse gewonnen, die sich in den weiteren Planungsprozess einspeisen  lassen. So lernt das  System, sich rasch neu zu justieren. Allerdings muss mit vorläufigen und improvisierten Lösungen gelebt werden – was jedoch weitaus besser ist als perfekt durchgeplante Ergebnisse, die zum Zeitpunkt ihrer Realisierung bereits überholt sind. Angenommen eine Klinik plante zu Beginn  der  Pandemie eine  Zweiteilung der Notaufnahme in Covid- bzw. Covid-Verdachtsfälle und Non-Covid-Fälle, um die  Ansteckungsgefahr zu minimieren. Ein detaillierter Planungsprozess, um eine Notaufnahme neu zu  strukturieren, hätte sich unter normalen Verhältnissen über  viele  Monate erstreckt – ein Zeitraum, der in der Akutphase der Krise absolut inakzeptabel war. Alternativ musste vermehrt mit Kompromissen gearbeitet werden: Trennwände bestanden aus gespannten Folien, zusätzliches Personal wurde von anderen Stationen und Bereichen „ausgeliehen“ und zusätzliche Wartebereiche  in  Containern geschaffen.

Der Erfolg dieser ‚agile‘ Form der Planung basiert auf folgenden Voraussetzungen:

  1. Definierte kurze Handlungszyklen, im agilen Management auch ‚Sprints‘ genannt, in denen wichtige Teilschritte und -Lösungen, sogenannte ‚Prototypen‘ erarbeitet werden.
  2. Schnelle Feedbackschleifen: So kann schnell erkannt werden, ob die ‚Prototypen‘ alltagstauglich sind oder einen Irrweg darstellen, der schnell korrigiert werden muss.
  3. Sorgsame Risikoabschätzung bei vorläufigen Lösungen: Bei sicherheitsrelevanten Themen wie der Hygiene oder den Akutmaßnahmen in der Patientenversorgung lautet die zentrale Frage im agilen Arbeiten: „Is it save enough to try?“ Risikoabschätzung heißt auch, das Risiko einer vorläufigen Lösung dem Risiko des Nicht-Handelns oder des Status-Quos gegenüber zu stellen.
  4. Agile Kommunikations-Strukturen: Agile Meetingformate, die auf Entscheidungsfreude, kurzfristige Aktualisierung und reibungsfreien Informationsfluss ausgelegt sind.

Unterschiedliche Zukunftsszenarien antizipieren

 Viele Fragestellungen brauchen jedoch einen gewissen Vorlauf und können nicht ausschließlich ‚auf Sicht‘ geplant werden. Welche elektiven Leistungen z.B. biete ich als Klinik unter den pandemiebedingten Einschränkungen in welchem Umfang an? Die Prognosen sind unsicher. Gerade regional müssen Kliniken mit einem schnellen Wiederanstieg der eingelieferten Covid-Patienten rechnen, der im Extremfall den Regelbetrieb fast zum Erliegen bringt.  

Hier macht es Sinn, sich auf unterschiedliche Szenarien einzustellen. Beispielsweise kann es aktuell sinnvoll sein, sich für folgende zwei Zukunftsoptionen zu wappnen:  

 a) Es gibt eine massive dritte Welle von Infektionen mit gefährlichen Corona-Mutationen, die über weitere Monate die Kapazitäten der Kliniken massiv binden und den Elektivbetrieb – lokal unterschiedlich – einschränken. Die Situation oszilliert über einen langen Zeitraum von ca. 1,5 Jahren immer wieder zwischen Phasen sehr hoher Covid-Patientenzahlen und Phasen der ‚trügerischen Ruhe‘, in der die Pandemie durch verschärfte Maßnahmen wieder für eine Zeit eingedämmt ist. Die Impfstoffentwicklung hinkt den Mutationen hinterher und durch eine hohe Impfskepsis wird der Aufbau einer wirksamen Herden-Immunität in der Bevölkerung verzögert.   

 b) Die dritte Welle bleibt aufgrund der getroffenen Maßnahmen beherrschbar und ab dem frühen Sommer führt eine beschleunigte Impfkampagne zu einer zu einer deutlichen Stabilisierung der Situation. Zusätzlich stehen durch stark beschleunigte Zulassungsverfahren auch zeitnah angepasste Impfstoffe zur Verfügung, die die sich ausbreitenden Mutationen eindämmen.  

 Beide Szenarien haben unterschiedliche Folgen für die Kern-Prozesse eines Krankenhauses, die ich vorausplanen kann. Diese Antizipation bietet im Gegensatz zu der Haltung: ‚Wie das funktioniert, schauen wir dann, wenn es so weit ist.‘ allen Beteiligten Handlungssicherheit und Orientierung.  

Systemisches Denken: Von Wechselwirkungen, Engpässen und Schlüsselfaktoren

 Agiler Planung analysiert und berücksichtigt die Wechselwirkungen und Abhängigkeiten der verschiedenen Handlungsfelder- und ebenen. Hier ein Beispiel aus der Ausbruchsphase im März/April dieses Jahres. Das zentrale Handlungsfeld stellte die Ausweitung der Intensiv- und Beatmungskapazitäten dar. Offensichtlich limitierend wirkte z.B. die Akquise von Intensivpersonal, sowie die räumlichen Möglichkeiten. Weniger offensichtlich war, dass ein wesentlicher Erfolgsfaktor die Vernetzung der Krankenhäuser mit den Anschluss-Behandlern darstellte. So konnten neue Kapazitäten oft nur dann schnell geschaffen werden, wenn der Patientenfluss an die Anschluss-Behandler wie z.B. die Reha-Kliniken auch nach dem Ausbruch der Pandemie gesichert war. Durch eine Visualisierung der gegenseitigen Beeinflussungen in einer sogenannten Wirkungsfeldanalyse können Engpässe, Schlüsselfaktoren und positive Rückkoppelungseffekte (Teufelskreise) gut identifiziert und in der Planung berücksichtigt werden.

 

 

Agile Meeting-Formate: Das Ego begrenzen – Entscheidungen beschleunigen

 Die oben beschriebene Planungskultur basiert auf Kommunikationsstrukturen, die auf effiziente Entscheidungsfindung, klare Verantwortlichkeiten und schnelle Aktualisierung angelegt sind. Angelehnt an Holocracy unterscheidet das agile Arbeiten zwischen 3 Meeting-Formaten, die jeweils mit unterschiedlichen Zielen verbunden sind: 

  1. Synchronisations- (Sync-)Meeting: Hier geht es darum, schnell und strukturiert alle Beteiligte auf denselben Wissensstand zu bringen. Laufende Projekte werden angepasst sowie aktuelle Themen und Fragen entschieden, so dass alle wissen, was als nächstes zu tun ist.  
  2. Fokus-Meeting: In kleineren Experten-Gruppen werden Themen vertieft analysiert, bearbeitet und kreative Gestaltungsräume eröffnet. Die produzierten Lösungen und Ergebnisse werden im Sync-Meeting vorgestellt und abgestimmt. 
  3. Steuerungs-Meeting: Auf grundsätzlicher Ebene werden Rollen und Verantwortlichkeiten geklärt sowie Entscheidungen über Strukturen und Regeln getroffen.
     

Gründet beispielsweise eine Klinik einen Krisenstab, so wäre der erste sinnvolle Schritt – noch bevor die dringlichen Themen bearbeitet werden – in einem Steuerungs-Meeting die Rolle des Gremiums zu klären, d.h. Verantwortlichkeiten, Befugnisse, Entscheidungswege u.a.. Das spart im weiteren Verlauf viel Zeit und minimiert das immense Konfliktpotenzial des Krisengeschehens. 

Anschließend wird regelmäßig ein Synchronisationsmeeting (Sync-Meeting) abgehalten. Hier werden alle auf den aktuellen Stand gebracht und operative Fragen geklärt. Differenzierte und komplexe Themen, Projekte und Strategien, wie z.B. das Hygiene- und Isolationskonzept, werden parallel in kleinere Fokus-Meetings ausgelagert, die gezielt mit den jeweiligen Experten besetzt sind. Die Ergebnisse werden in den Sync-Meetings präsentiert und abgestimmt. Gibt es im Laufe der Krisenbewältigung Unklarheiten über Zuständigkeiten und Rollen, werden diese gesondert in weiteren Steuerungs-Meetings geklärt.  

Um zu unterstützen, dass alle relevanten Themen auf den Tisch kommen, wird der Begriff der ‚Spannung‘ eingeführt. Spannungen sind empfundene Diskrepanzen zwischen dem, wie es ist und dem, wie es sein sollte. Damit verbunden ist ein klarer Impuls zur Veränderung. Von den Teilnehmenden empfundene Spannungen werden zu Beginn eines Sync-Meetings gesammelt und anschließend strukturiert bearbeitet. Die Aufgabe des Moderators ist es, sehr schnell zu klären, welches konkrete Anliegen ein Teilnehmer dabei verfolgt. So werden ausufernde Monologe und unfokussierte Diskussionen im Keim erstickt. Stattdessen wird jeweils schnell ein angemessener Rahmen für ein Anliegen definiert. Das beschriebene Vorgehen begrenzt erfahrungsgemäß das Ego und die Tendenz zur Selbstdarstellung bei den Teilnehmenden und führt zu einer deutlichen Beschleunigung von Entscheidungen.  

Neben den 3 beschriebenen Foki gibt weitere Formate, die jeweils für spezielle Anlässen geeignet sind, z.B. das Daily StandUp, ein 10minütiges Format zur schnellen Abstimmung am Beginn einer täglichen Arbeitseinheit – ähnlich einer kurzen Übergabe – oder die Retrospektive zur Evaluation der Zusammenarbeit in einem Projektschritt.  

All diesen Formaten ist gemein, dass sie auf Erkenntnisgewinn, klare Verantwortlichkeit, ein hohes Maß an Selbstverantwortung, Geschwindigkeit und gegenseitigen Respekt abzielen und aus unserer Erfahrung heraus sehr effektiv sind. Die Formate sind gerade in Pandemiezeiten auch gut online durchführbar und können intelligent durch virtuelle Tools wie Projekt- und Whiteboards unterstützt werden. 

 

 

Auf die Haltung kommt es an….
 

Die beschriebenen Arbeitsformen erfordern u.a. eine hohe geistige Flexibilität und Offenheit sowie die Abkehr vom starren Hierarchie- und Säulendenken. Sie setzten ein Begegnen auf Augenhöhe voraus und bauen auf die Fähigkeit, vorgefasste Meinungen und Bewertungsmuster bei sich selbst in Frage zu stellen.  

Wenn wir im Austausch mit vielen Häusern und Einrichtungen eines erfahren haben, dann, dass sich viele Akteure während Krise in dieser Weise geöffnet haben, weit über sich hinausgewachsen sind und auf sehr unbürokratische und pragmatische Weise kooperiert haben. Ein Potenzial, dass zu wertvoll ist, um es nach der Krise wieder fallen zu lassen und das durch einen Wandel in der Planungs- und Meeting-Kultur bewusst kultiviert werden kann.

 

Philipp Andresen
Inhaber Institut für Unternehmensgesundheit